"Piper Alpha"-Katastrophe: "Es war, als ob ich lebendig gekocht würde (2024)

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Die explodierte Bohrinsel, eine riesige Fackel aus Stahl. Schon aus hundert Kilometer Entfernung konnten die Helikopterpiloten den mächtigen Rauchpilz sehen, und jetzt, immer noch anderthalb Kilometer von ihrem Ziel entfernt, spürten sie bereits die Hitze der Flammen. Aus der Luft, das war ihnen sofort klar, konnten sie unter solchen Bedingungen keinen der 226 schottischen Arbeiter von der Ölplattform "Piper Alpha" retten.

Unten, noch näher am Inferno, sah es aus, "als ob eine Atombombe eingeschlagen wäre", wie ein Augenzeuge später sagte. Rettungsboote versuchten, jene Ölarbeiter an Bord zu ziehen, die - mitunter brennend - aus bis zu 50 Metern Höhe in die Nordsee gesprungen waren. Viele überlebten den Aufprall nicht oder landeten in Öllachen, die sich jederzeit entzünden konnten und das Wasser in einen Flammenteppich verwandelten. Und selbst wer den Sprung überstand, musste seinen Kopf schnell wieder unter Wasser drücken, damit ihm die Hitze nicht das Gesicht verbrannte.

Ian Letham war froh, unter diesen Umständen überhaupt Überlebende bergen zu können. Mit zwei weiteren Helfern hatte er sechs Männer an Bord seines kleinen Rettungsbootes gezogen. "Dann gab es eine zweite Explosion", erzählte Letham einem britischen Reporter später unter Tränen. "Unser Boot brannte von vorne bis hinten. Die Sachen schmolzen mir am ganzen Körper. Meine Schwimmweste und mein Helm verschmorten." Von den neun Männern an Bord überlebte nur er. Wochen danach wurde der Rettungshelfer für seinen Einsatz mit dem zweithöchsten Tapferkeitsorden Großbritanniens ausgezeichnet.

Eine Medaille für einen mutigen, aber tragischen Helden, der am Ende nur sich selbst retten konnte: Nichts zeigt deutlicher, wie hilflos die britische Regierung an jenem 6. Juli 1988 agierte, als die "Piper Alpha" rund 190 Kilometer vom schottischen Aberdeen entfernt in Flammen aufging. 165 Ölarbeiter und zwei Retter starben. Es ist die bis heute schlimmste Katastrophe auf einer Bohrinsel. "Der Tag, an dem das Meer Feuer fing", wie die Presse schrieb, sollte Familien zerreißen, Arbeiter traumatisieren, einen US-Ölmulti aus der Nordsee vertreiben - und eine ganze Branche an den Pranger stellen.

Denn am 6. Juli 1988 entlud sich in dem tödlichen Feuerball gewissermaßen auch die ungezügelte Gier der Ölindustrie. Jahrelang hatten sich die Firmen kaum ernsthaft um sinnvolle Sicherheitsmaßnahmen auf den Bohrinseln gekümmert - trotz offener Kritik von Experten an den tickenden Zeitbomben.

Dies traf besonders auf "Piper Alpha" zu, die mehrheitlich dem US-Konzern Occidental Petroleum gehörte. Schon 1984 war es hier zu einer Explosion gekommen, so dass 175 Arbeiter evakuiert werden mussten. Und dennoch löste sich schon zwei Jahre später ein Komitee aus Arbeitnehmern und Vertretern der Konzernspitze wieder auf; Vorschläge für eine erhöhte Sicherheit, so klagten die Gewerkschaftler, seien konsequent ignoriert worden. Im Zeitalter von Thatchers und Reagans Neoliberalismus hatten Bedenkenträger im Energiesektor kein leichtes Spiel.

"Mayday...alles brennt!"

Und lange ging ja auch alles gut. "Piper Alpha" war eine der produktivsten Anlagen der Welt, hier wurden Ende der Siebziger bis zu 317.000 Barrel Öl täglich gefördert. 1980 stiegen die Betreiber zusätzlich auf die Förderung von Gas um, obwohl die Plattform, insbesondere ihre Feuerschutzwände, dafür gar nicht konzipiert gewesen war. Das aus dem Meeresboden gepumpte Gemisch aus Gasen, Öl und Wasser wurde in einem Fabrikteil der Anlage getrennt. Wild wurden im Laufe der Jahre immer mehr meterdicke Leitungen gelegt, mit denen das energiehungrige Festland versorgt wurde.

"Piper Alpha"-Katastrophe: "Es war, als ob ich lebendig gekocht würde (1)

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"Piper Alpha"-Explosion: Der Tag an dem die Nordsee brannte

Foto: picture alliance/empics/PA

Die Katastrophe begann ausgerechnet mit den sonst konsequent vernachlässigten Sicherheitsmaßnahmen: Bei Wartungsarbeiten hatten Techniker mehr als 100 Sicherheits- und Überdruckventile überprüft, ausgetauscht und wieder eingesetzt - bis auf eines. Das Überdruckventil einer Hauptpumpe war am Morgen des 6. Juli zur Überholung entfernt worden; die Gasleitung wurde provisorisch mit einer Metallplatte verschlossen. Ein Formblatt informierte das diensthabende Personal, das im Schichtbetrieb wechselte, dass diese Pumpe auf keinen Fall eingeschaltet werden durfte. Doch genau das geschah am späten Abend: Als kurz vor 22 Uhr eine andere Pumpe ausfiel, wurde das Formblatt übersehen und die stillgelegte Pumpe hochgefahren - Beginn einer fatalen Kettenreaktion.

Viele Überlebende berichteten später von einem unheimlichen Geräusch, das sie an das Heulen eines Geistes erinnerte habe. Sekunden später explodierte das Gas, das die provisorische Metallplatte hochgedrückt hatte und ausgeströmt war. 200 Meter hoch soll der Feuerball in den Nachthimmel geschossen sein. Chaos brach aus.

In der Funkstation setzte das Personal hektisch mehrere Notrufe ab, den letzten um 22.08 Uhr: "Mayday, Mayday... Wir geben nun den Funkraum auf. Wir können nicht mehr kommunizieren, alles brennt."

Hilflose Helfer

Am wenigsten Chancen hatten die Arbeiter, die bereits schliefen. Der Wohnbereich der Anlage fing Feuer und stürzte später komplett in die Nordsee. Überall auf der Plattform breitete sich dicker Rauch aus, die Arbeiter drückten sich auf den Boden, um nicht zu ersticken. Atemgeräte konnten nicht rechtzeitig aufgetrieben werden, und niemand schaffte es, die Rettungsboote klarzumachen. Brennendes Öl sammelte sich im unteren Bereich der Plattform auf Gummimatten, die wegen eines Tauchereinsatzes liegengeblieben waren. Ein eklatanter Sicherheitsfehler, denn ohne die Matten wäre das Öl einfach durch das Metallgitter ins Meer getropft.

Zwar war es der Mannschaft gelungen, den Notschalter zu drücken und damit die komplette Förderung auf der Plattform zu stoppen. Doch durch eine zweite Leitung wurde weiter Gas von einer anderen Bohrinsel gepumpt. Um 22.50 Uhr explodierte auch sie. Jetzt war "Piper Alpha" endgültig verloren.

Vom Wasser aus verfolgte die Mannschaft der "Tharos", des Rettungs- und Versorgungsschiffes der Plattform, das Drama. Mit Wasserwerfern versuchte das Boot zu löschen, was nicht zu löschen war - und produzierte nur Nebel. Hilflos fasste David Olley, Mediziner an Bord der "Tharos", die Situation damals zusammen: "Das A-Modul, das B-Modul und das C- Modul brennen. Wir haben Feuer vom Wasser bis zum Helikopterdeck. Das ganze verfluchte Ding steht in Flammen."

Ertrinken oder verbrennen

Oben, eingekesselt von Rauch und Flammen, standen die Arbeiter vor einer schlimmen Entscheidung: Aus großer Höhe springen und vermutlich ertrinken oder abwarten und wahrscheinlich verbrennen?

Der Techniker Ron Carey entschied sich für die erste Option, trotz der Höhe. "Ich versuchte einen sauberen Sprung, hielt die Arme ganz eng am Körper und tauchte daher sehr, sehr tief ins Wasser ein", erzählte er später der "Daily Mail". Als er auftauchte, war es so heiß, dass er glaubte, sterben zu müssen. "Es war, als ob ich lebendig gekocht worden wäre." Mit letzter Kraft schaffte er es zu einem Rettungsboot zu schwimmen. Wenig später, um 23.20 Uhr, explodierte eine dritte Gasleitung. Jetzt mussten sich auch die Rettungsschiffe zurückziehen.

"Gott weiß, was hier passiert ist. Es ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe", sagte zwei Tage später Paul Neal "Red" Adair - und der rothaarige Amerikaner kannte sich wie kein Zweiter aus mit Brandkatastrophen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Feuer außer Kontrolle geriet, wurde seine Firma gerufen. 1988 war der bekannteste Feuerwehrmann der Welt bereits eine Legende, sein Leben in "Hellfighters" mit John Wayne in der Hauptrolle verfilmt.

Nichts gelernt

"Piper Alpha" wurde zu einer der größten Herausforderungen des damals 73-Jährigen. Es dauerte zwei Wochen, bis er das erste der Bohrlöcher mit Unmengen von Meerwasser löschen konnte. Eine weitere Woche brauchte er für die vier anderen Brandherde, die schließlich alle mit Zement verfüllt wurden.

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Auf dem Festland begann unterdessen die Suche nach den Schuldigen für den Verlust der Bohrinsel, der sogar die britische Wirtschaft in Schwierigkeiten brachte, weil plötzlich zehn Prozent der Gas- und Ölförderung aus der Nordsee weggebrochen war. Betreiber Occidental Petroleum stritt jede Verantwortung ab, zog sich aber nach den milliardenschweren Verlusten aus der Nordsee zurück.

Zwei Jahre später kam eine Untersuchungskommission in einem 800-seitigen Bericht zu einem weit differenzierteren Bild: Demnach habe Occidental eine "leichtfertige Haltung" gegenüber Unfallrisiken an den Tag gelegt und das Notfalltraining vernachlässigt. Aber auch die Inspektionen des britischen Energieministeriums seien äußerst "oberflächlich" gewesen. Kurzerhand wurde dem Ministerium die Kontrolle der Bohrinseln entzogen, weil der Bericht nahelegte, dass die Behörde die Sicherheit dem wirtschaftlichen Erfolg untergeordnet habe.

Unter dem Schock der Katastrophe akzeptierte die Ölindustrie sofort mehr als 100 Sicherheitsempfehlungen. Und doch befürchtete Ian Letham, jener mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnete tragische Held des Unglücks, dass die Firmen ihre guten Vorsätze schnell vergaßen. Zwölf Jahre nach der Explosion überlegte BP Amoco, seine teuren Rettungsschiffe in der Nordsee komplett durch Rettungshubschrauber zu ersetzen. "Nur um Geld zu sparen, spielen sie mit Menschenleben", empörte sich Letham in Interviews. Und dann sagte er immer wieder diesen einen, entscheidenden Satz: "Von 'Piper Alpha' wurde niemand mit einem Hubschrauber gerettet."

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Author: Laurine Ryan

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